WEIHNACHTEN

25/26.12.23 In einer Zusammenkunft der Schreibwerkstatt für Jugendliche unter Leitung von Renate Zimmermann, Mark-Twain-Bibliothek, entstanden diese Weihnachtsgeschichten. (Bild oben, Texte unter Weiterlesen)

Das Familientreffen


Es war das erste Mal, dass sie sich wieder sahen, seit der Tragödie.

Im Kamin brannte ein Feuer, es erwärmte den Raum und hätte unter anderen Umständen für eine ruhige, entspannte Atmosphäre gesorgt.

Doch Lukas spürte, wie angespannt die Stimmung war. Seit seine Großmutter Helga tot aufgefunden worden war, war nichts mehr wie sonst.

Seit ihrer Beerdigung hatte sich die Familie nicht mehr gesehen. Sie alle waren sich fremd geworden.

Zwar waren Lukas und seine Familie freundlich von seiner Tante Irina und deren Familie empfangen worden, allerdings wirkten alle Beteiligten sehr distanziert.

Die Wunden waren noch zu frisch, sie alle konnten sich daran erinnern, was an jenem schicksalhaften Morgen im Juni geschehen war.

An diesem Morgen hatten Lukas´ Tante und sein Vater Helga tot in der Badewanne aufgefunden.

Bei der Obduktion kam heraus, dass sie einen Herzinfarkt erlitten hatte und infolgedessen ertrunken war.

Und so trug man in ihre Akte ein, dass sie eines natürlichen Todes gestorben war. Doch daran wollte Irina nicht glauben.

Die rüstige alte Dame hatte sich immer gesund ernährt, Sport getrieben und weder Alkohol getrunken noch geraucht.

Ein Herzinfarkt war bei ihr undenkbar gewesen.

Irina glaubte deshalb an einen Mord, weshalb sie und ihre Familie, die aus ihrem Mann und ihren beiden Kindern Lisa und Noah bestand, in den Monaten nach dem Todesfall keinen Besuch hatten.

Der Verlust war allen nah gegangen, Irina und ihrer Familie allerdings ganz besonders.

Als Helga starb, hatte nämlich die ganze Familie auf dem riesigen Anwesen übernachtet und Irina verdächtigte Lukas´ Vater des Mordes.

Deshalb war es zu einem riesigen Streit und einem monatelangen Kontaktabbruch gekommen.

Erst in den letzten Wochen hatten sie sich wieder angenähert.

Nun feierten sie zusammen Weihnachten, in der Hoffnung, dass alles wieder so werden würde wie früher.

Doch sie irrten sich, es würde nie wieder so werden wie früher.

Nach einer schier endlosen Runde belanglosen Smalltalks, bei dem es um das aktuelle Befinden der Familie ging, gab es endlich Essen.

Bei keinem der Gespräche wurde Lukas Großmutter auch nur mit einem Wort erwähnt, was ihn enttäuschte.

Lukas setzte sich zu den Kindern der Familie, zu seinen Geschwistern und seinen Cousins.

Sie alle waren älter als er und behandelten ihn wie immer wie Luft.

Das war ihm sogar ganz recht, er hatte ganz einfach keine Kraft mehr für die Belanglosigkeiten, über die sich seine Familienmitglieder unterhielten.

Seit dem alles verändernden Abend im Juni war sowie nichts mehr von Belang für ihn.

Die Gespräche am anderen Ende des Tisches waren ernster geworden.

Neugierig spitzte Lukas seine Ohren und bekam gerade mit, wie sich seine Tante bei seinen Eltern entschuldigte: "Ich habe nochmal mit dem Gerichtsmediziner gesprochen“, sagte sie mit brüchiger Stimme, "es war kein Mord, sie ist wirklich an einem Herzinfarkt gestorben."

"Das sagen wir dir doch schon die ganze Zeit", antwortet Lukas Vater hart. Lukas fühlte, wie ihn ein freudiges Gefühl warm durchströmte.

Er gab sich Mühe, ein stolzes Grinsen zu verkneifen.

Es war kein Herzinfarkt gewesen, der seiner Großmutter das Leben gekostet hatte.

Er selbst hatte sie ermordet und das so geschickt, dass es für die Gerichtsmediziner wie ein natürlicher Tod aussah.

Niemand der Anwesenden merkte, dass der Grund für Helgas Tod mit ihnen am Tisch saß, denn auf die anderen wirkte Lukas wie ein ganz normaler Zwölfjähriger.

Und so konnte niemand verhindern, dass er bereits den nächsten Mord plante, den er heute Abend umsetzen würde. Den Mord an seiner Tante.


(Lea Neubert, 16 Jahre)

23.12.23 www.marzahner-promenade.berlin jetzt auch auf Instagram

Copyright © 2024 Marzahner-Promenade.berlin
created by 3-w-media.de